Homöopathie in der Geschichte der Medizin

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Die Entstehung der Homöopathie

Die Entstehung der Homöopathie muss im Kontext der zeitgenössischen Wissenschaft gesehen werden, damit sie aus heutiger Sicht nachvollzogen werden kann. Da Wissenschaftler des 18. und 19. Jahrhunderts die noch fehlenden Grundlagenkenntnisse unter einfachsten Bedingungen erst noch finden mussten, erweist sich Dr. Samuel Hahnemann als ein außerordentlicher Pionier in der Medizingeschichte.

Die Entstehung der modernen Chemie

Bis zu den Entdeckungen Lavoisiers waren die Lehren von Joh. Joach. Becher (1635 - 1682) und G. E. Stahl (1660 - 1734) bedeutend, besonders in der Lehre des Phlogiston. Nach Prof. Neumann war das Phlogiston das brennbare Prinzip, ohne das nichts auf der Welt brennen kann. Schwefel z. B. bestand also aus Schwefelsäure und Phlogiston. Auch schreibt Neumann: „Das Wasser ist nichts als eine von der Wärme flüssig gemachte durchsichtige Erde, die man Eis nennet. Es besteht aus vier Elementen: terra vitrescens, terra mercurialis, terra sulfurea und inflammabilis.“[1]

Neumann wurde zu Hahnemanns Zeiten noch oft als Autorität genannt. Es gab auch noch Alchimisten.
Bei den chemischen Untersuchungen jener Zeit gab es die große Schwierigkeit, dass man keine oder nur wenige ‘einfache’ Körper, die Elemente, kannte. Man suchte nach dem „Grundwesen“ der Körper.

1791 schreibt Prof. Gren über chemische Verwandtschaften: Feuer mit Luft = Phlogisierte Luft; Luft mit Wasser = Durchdringung; Feuer mit Gummi = Kohle.
Lavoisier machte diesen Annahmen gegen heftigsten Widerstand und langer Gegenwehr ein Ende. In diese Zeiten fallen auch Hahnemanns chemische Arbeiten. 1770 zeigte Lavoisier, dass sich Wasser nicht in Erde verwandelt, sondern aus Wasserstoff und Sauerstoff zusammengesetzt ist. 1774 beweist er, dass die Zunahme des Gewichts, welche Metalle beim ‘Verkalken’ (Oxidieren) erfahren, von dem „Einschlucken“ von Luft herrühre.

In Crell’s Chemischen Annalen [2]veröffentlichte Hahnemann einige seiner frühen Schriften. 1790 lädt er zu Untersuchungen zur Entscheidung über die Frage zum Phlogiston ein. Leider kam es wegen des Ausbruchs der Französischen Revolution nicht mehr dazu, in deren Verlauf Lavoisier unter der Guillotine endete (1794).

1799 konstatiert Gmelin, dass das System Lavoisiers von dem größeren Teil der ‘Scheidekünstler’ angenommen sei. [3]

Hahnemann als Chemiker

Hahnemann trat als Chemiker auf, ohne dass er einen besonderen Unterricht gegenüber anderen Ärzten genossen oder vorher Assistent in einem Laboratorium gewesen wäre - er war Autodidakt. 1784 übersetzt er Demachys „Laborant im Grossen oder Kunst, die chemischen Produkte fabrikmäßig zu verfertigen“. 2 Bände. Hahnemann verbesserte und ergänzte das Werk durch eigene Anmerkungen bedeutend. Demachy war Mitglied der Akademien zu Paris und Berlin. Hahnemann zeigte in seinen Anmerkungen eine erstaunliche Kenntnis in allen Fragen, die irgendwie mit dem Inhalt des Buches zusammenhängen. Erschöpfend ist seine Literaturkenntnis, die er an zahlreichen Stellen durch Auskunft zum besseren Verständnis des Vorgetragenen zeigt. Oft erklärt er chemische Vorgänge genauer. Oft verbessert Hahnemann Irrtümer und Fehler, die Wilhelm Ameke in seinem Werk „Die Entstehung und Bekämpfung der Homöopathie“ durch einige Beispiele belegt.

1786 gibt Hahnemann das Buch „Über die Arsenikvergiftung, ihre Hülfe und gerichtliche Ausmittelung“ heraus. Der besonders um die Pharmazie verdiente Arzt Bergrath Dr. Buchholtz in Weimar schreibt: “... Die für jene Zeit klassische Schrift Samuel Hahnemanns über den Arsenik, wodurch die damals besten Arsenikanalysen in die gerichtliche Medizin eingeführt wurden.“

Veröffentlichungen Hahnemanns in Crell's Chemischen Annalen

1787 (II. 387-396): „Ueber die Schwierigkeit der Minerallaugensalzbereitung durch Potasche und Kochsalz“.

1788 (I. 141 - 142): „Ueber den Einfluss einiger Luftarten auf die Gärung des Weines“.

1788 (I. 291 - 305): „Ueber die Weinprobe auf Eisen und Bley“

1788 (III. 296 - 299): „Etwas über die Galle und Gallensteine“

1788 (III. 485f): „Ueber ein ungemein kräftiges, die Fäulniß hemmendes Mittel“

1789 (I. 202 - 207): „Mißglückte Versuche bey einigen angegebenen neueren Entdeckungen“

1789 (III. 291 - 298): „Entdeckung eines neuen Bestandtheils im Reißbley“
1790 (II. 22 - 28): „Vollständige Bereitungsart des auflöslichen Quecksilbers“

1791 (II. 117 - 123): „Unauflöslichkeit einiger Metalle und ihrer Kalke im ätzenden Salmiakgeiste“

1792 (I. 22 - 33): „Ueber die Glaubersalz-Erzeugung nach Ballen'scher Art“

1794 (I. 104 - 111): „Ueber die neuere Weinprobe und den neuen Liquor probatorius fortior“

1800 (I. 392 - 395): „Pneumlaugensalz, entdeckt von Hrn. D. Samuel Hahnemann“[4]

Die Chemie hält Einzug in die Medizin

Hierbei ist Hahnemann unter den Vorreitern und zeigt bei vielen Gelegenheiten das Bestreben, die Chemie im Dienste der Medizin zu verwerten.

Das Werk J. B. van den Sandes „Die Kennzeichen der Güte und Verfälschung der Arzneymittel“ stammt im chemischen Teil aus Hahnemanns Feder, wie auch die genauen Angaben der Bestandteile der einzelnen Drogen. Die Prüfungsmittel für die Arzneimittel gibt Hahnemann bisweilen so gedrängt, treffend und erschöpfend, dass man an die heutigen Pharmakopöen erinnert wird. Hahnemann zeigt in dieser Schrift bereits sein Bestreben, die Grenzen der Wirksamkeit der Stoffeund ihre Löslichkeit kennenzulernen.
Genauigkeit herrscht in allen Punkten. Er gibt die Schmelzpunkte der Metalle, die spezifischen Gewichte derselben und ihrer Präparate an, die Löslichkeit der Salze oft bei verschiedenen Wärmegraden, bei wichtigen, wie z. B. dem Salmiak, auch noch in Weingeist von verschiedener Temperatur. Besonders wichtig scheint ihm mit Recht die Bestimmung des spezifischen Gewichtes bei den
Säuren; er führte für die arzneiliche Verwendung verdünnte Säuren ein, wie es noch heute Gebrauch ist. Er setzt sogar die Verdünnungen nach dem spezifischen Gewichte fest, wobei er den heutigen Vorschriften sehr nahe kommt. Beim Essig soll die Stärke durch Sättigung mit einem Alkali bestimmt werden, wie es noch lange geschah.

An verschiedenen Stellen klagt Hahnemann über die ‘Unzuverlässigkeit der pharmaceutischen Präparate’ z. B. S 317, „die nie ein Arzt mit Gewissen verschreiben kann" oder S. 316 „worauf soll der Arzt sich verlassen?"

Bei der Exaktheit in seinen Arbeiten hat Hahnemann manches Neue gefunden und hier veröffentlicht.

Schon 1784[5]sprach Hahnemann für das Kristallisieren des Brechweinsteins, „damit wir doch endlich einmal in der Heilkunst von den Kräften dieses Mittels eine zuverlässige Norm bekommen mögen." Hätte man 1784 nach seinem Drängen kristallisiert, so wären die späteren Klagen nicht erfolgt. Später wurde dieses Mittel aus Algarothpulver und mittels Kristallisirens hergestellt, wie es Hahnemann empfohlen hatte. Auch an andern Stellen macht er auf die Wichtigkeit des Kristallisirens aufmerksam und mahnt die Apotheker, wo möglich nur kristallisierte, und nicht, wie so häufig, gepulverte Salze zu kaufen - wegen der leichteren Entdeckung der Verfälschungen.

Für die Selbstbereitung tritt Hahnemann überall da ein, wo Verunreinigungen nicht leicht zu entdecken waren.

Damalige Kritik von Prof. Baldinger [6] : „Dieses Buch ist äusserst wichtig und jedem praktischen Ärzte schon unentbehrlich, noch mehr aber jedem Physico,' dessen Pflicht es ist, Apotheken zu untersuchen ... Viel Gutes ist in diesem wichtigen und unentbehrlichen Buche gelehrt worden, das ich nicht genug empfehlen kann.“

In diesem Buch lehrte Hahnemann zum ersten mal seine sogenannte Weinprobe, die er später in Crells Chemischen Annalen noch genauer beschrieben hat. Hahnemann konnte so mit Bleizucker gepanschten Wein identifizieren, der zu ‘Koliken und „Kontrakturen“, auch zu Abzehrung und langsamen Tod führte’. Diese weittragende Entdeckung auf chemischem Gebiet führte zu weiter Verbreitung von Hahnemanns Namen. Übrigens wurde diese ‘Weinprobe’ später als ‘Hahnemanns Metallprobe’ verstanden.

 

Mercurius solubilis Hahnemanni

Chemiker waren auf der Suche nach einem Quecksilberpräparat, welches weniger ätzend und „giftig“ sei, als Sublimat, also salzsaures Quecksilber und Turpethum minerale, basisch schwefelsaures Quecksilber. [7]

Hahnemann löste zunächst Quecksilber unter Verwendung von Salpetersäure in der Kälte. Das entstehende Salz ließ er kristallisieren, spülte die Kristalle mit sehr wenig Wasser ab und trocknete sie auf Fließpapier. Auf diese Weise erhielt er reines salpetersaures Quecksilberoxydul.[8]" Schon damit hatte er ein lange gebräuchliches Salz geschaffen. Selbst das Hahnemannsche Mengenverhältnis, der stete Überschuss an Quecksilber, das Lösen in der Kälte, das Abspülen der Kristalle mit nur wenig Wasser, das Trocknen auf Fließpapier ohne Wärme wurde beibehalten, weil alle diese Vorschriften als wesentlich erkannt waren.
Diese Kristalle behandelte er mit einer bestimmten Menge Wasser und schlug die Lösung durch eigens bereiteten kohlensäurefreien Salmiakgeist nieder, zu dem er nochbesonders die Vorschrift gibt. Der Niederschlag bildet, nach 6-stündigem Stehen, einen schwarzen Teig, der auf einem Filtrum von weißem Fließpapier ohne alle Hitze getrocknet wird.


Die Ärzte urteilten: „Eines der allerwirksamsten gelinden Mercurialpräparate verdankt die Kunst dem bekannten und dadurch unsterblichen Hahnemann“.[9] Mit den Anerkennungen, die Hahnemann wegen seines Quecksilbers im Laufe der Jahre von nichthomöopathischen Ärzten gezollt wurden, können viele Seiten gefüllt werden.

Samuel Hahnemanns Apothekerlexikon

Verfasst 1793 - 1799

Der Stoff ist alphabetisch geordnet und bespricht alle Gegenstände, welche den Apotheker bei seinen Arbeiten interessieren. Die Darstellung ist kurz, lebendig und anregend. Man findet eine genaue Beschreibung der zweckmäßigsten Einrichtung einer Apotheke und deren Räume, z. B. unter den Wörtern „Apotheke", Keller, Trockenboden, Laboratorium etc. Ebenso sind die einzelnen erforderlichen Utensilien genau und mit großem Sachverständnis beschrieben. Jeder von diesen Artikeln zeigt, wie speziell Hahnemann mit den Arbeiten vertraut ist, und doch zeigt jeder andere Artikel es nicht minder. Häufig führt er neue, von ihm erfundene oder verbesserte Apparate an, nicht ohne das Verständnis durch Abbildungen zu unterstützen.


Mit großer Genauigkeit und in fesselnder Weise werden die einzelnen Arbeiten des Apothekers bei der Rezeptur und im Laboratorium besprochen. Man vergleiche die Ausführungen unter „Rezept", wobei Hahnemann vielerlei Anweisungen erteilt, die heute zur gesetzlichen Vorschrift geworden sind. Wie reichhaltig sind bearbeitet: Abdampfen, Abgießen, Abklären, Auflösen, Auslaugen, Auspressen u. a. allein im Buchstaben A. Es ist in den einschlägigen Dingen ein eingehender Unterricht für Apotheker gegeben, man lese nur „Emulsion", die verschiedenen Arten derselben aus Samen, Fetten, Harzen, Kampfer mittelst Gummi, Tragant, Ei etc., oder man schlage nach „Destillation" oder „Krystallisirung", um zu sehen, mit welchem Eifer Hahnemann praktisch gearbeitet haben muss, und wie er seine Erfahrungen geistig zu verarbeiten verstand.
Dass er durch und durch Sachkenner war, zeigt auch das Interesse, das er am scheinbar Unbedeutendsten nahm, das nur dem Selbstarbeitenden wichtig wird, so beim Beschlag der Öfen (I. 111), bei der Destillation, bei der Anleitung zum Selbstverfertigen nicht käuflicher Apparate, bei dem verschiedenen Feuerungsmaterial für verschiedene Zwecke (I. 294), beim Pulvern der verschiedenartigsten schwer zu behandelnden Stoffe (II 1.246), bei den einzelnen Schmelztiegeln zu verschiedenen Arbeiten (II. 2.-161), bei den verschiedenen Öfen je nach dem Zweck (II. 1. 145-150) etc.
Eine Reihe von Hahnemann's Forderungen für die Apothekenverwaltung sind jetzt allgemein angenommen.
In diesem Lexikon hat Dr. Hahnemann Literatur aus über 100 Werke von den ersten Biologen und Zoologen eingearbeitet.
Kraus sagte in seinem „medicinischen Lexicon" 1826 [10]
: Hahnemann ist ein anerkannt guter Pharmazeut und hatte sich als solcher durch Darstellung seines sogenannten Mercurius solubilis und zum Theil durch seine Abhandlung über Arsenikvergiftung, wenn gleich nach ihm diese Lehre um ein Bedeutendes vervollkommnet ist, unverwelkliche Lorbeeren erworben."


So hat also Hahnemann's Forschergeist und eiserner Fleiss direkt und indirekt wichtige Beiträge zur Verbesserung der ärztlichen Heilwerkzeuge geliefert, Grundlagen der ärztlichen Kunst.

Arzneikunde

Die Arzneikunde beim Auftreten Hahnemanns

Die Begriffe von den Erscheinungen im gesunden und kranken Menschen wurden in Systeme gezwängt, welche von einzelnen Köpfen auf Grund vereinzelter Beobachtungen ausgedacht und den jeweiligen Ansichten und neuen Entdeckungen angepasst waren.


L. Hoffmann (1721-1807) fand, dass die meisten Krankheiten durch faule und durch saure Säfte entstanden, welche aus dem Körper entfernt oder mit „antiseptischen" und versüßenden" Mitteln verbessert wurden.
Stoll (1742-1788) lehrte, dass die Krankheiten unter dem Einfluss einer herrschenden Konstitution ständen, welche „durch die stehenden Witterungs- und epidemischen Fieber" bestimmt würde.
Kämpf (1726-1787) zeigte, dass die meisten Krankheiten ihren Sitz im Unterleibe hätten und durch „Infarkte" veranlasst würden.
Ende der 90er Jahre begann ausserdem noch das System des Schotten John Brown (1736 —1788) sich über Deutschland zu verbreiten. Brown trat mit großer Sicherheit auf. Nach seiner eigenen Ansicht hatte er als erster die Arzneikunst zu einer echten Wissenschaft erhoben, welche bald den Namen „Lehre der Natur" erhalten werde. Nach derselben besitzt jeder Mensch einen mehr oder weniger hohen Grad von Erregbarkeit. Auf dem richtigen Maße von Erregung beruht die Gesundheit. Krankheit entsteht entweder durch ein Übermaß von Erregung (Sthenie) oder durch Mangel an Erregung (Asthenie). Die Aufgabe des Arztes bestand einfach darin, die zu starke Erregung zu mäßigen, oder die zu schwache Erregung zu stärken. So wurden alle Krankheiten in zwei entsprechende Klassen eingeteilt, und ebenso die Heilmittel; es gab „sthenische" und „asthenische." Bei den auf übermässiger Kraft beruhenden Affektionen wandte man „reizentziehende" Mittel an, welche nach der Reihenfolge ihrer Wirkung diese waren: Aderlass, Kälte, Erbrechen, Purgieren, Schwitzen. Bei den asthenischen Krankheitsformen wurden sthenische Mittel verordnet, der Reihenfolge ihrer Heilkraft nach: Fleisch, Wärme, Verhinderung des Erbrechens, Purgirens, Schwitzens durch Fleischkost, Gewürze, Wein, Bewegung; ferner im höheren Grade des Leidens flüchtige Reize: Moschus, flüchtiges Alkali, Kampfer, Aether, Opium.<Rev>Vg. B. Hirschel, Geschichte des Brown’schen Systems, Dresden und Leipzig, 1846, S.37</ref> China wurde erst von den Anhängern Browns hinzugefügt. Die Kenntnis des Baues und der Verrichtungen des Organismus war nur von untergeordneter Bedeutung, da alles auf die Reize und den Grad der Erregbarkeit ankam. „So groß," sagte Brown, „ist die Einfachheit, auf welche die Arzneikunde zurückgebracht ist, dass ein Arzt, wenn er ans Krankenbett kommt, nur drei Dinge ins Reine zu bringen hat. Erstens ob die Krankheit allgemein oder örtlich sei, zweitens, wenn allgemein, ob sthenisch oder asthenisch, drittens vonwelchem Grade der Erregung sie sei. Hat er über diese drei Punkte sich Aufschluss verschafft, so bleibt ihm nichts übrig, als seine Heilanzeigen und seinen Kurplan festzusetzen und ihn durch die dienlichen Mittel auszuführen."[11]
Die Diagnose war Nebensache.
Zugleich mit Brown kam die von Schelling begründete  [12] Naturphilosophie auf. „Aechte Naturphilosophie," sagt Steffens, „hebt als solche jeden Gegensatz, jeden Streit der Meinungen und Hypothesen gegen andere Meinungen und Hypothesen auf, kann also keinen Gegner haben." „Ein wahres Wort" bemerkt dazu ein Rezensent. [13] Echte Naturphilosophie wusste alles, erklärte alles: „Die Naturphilosophie hat für das Erkennen die Priorität, denn sie ist das Erkennen des Erkennens, oder als das potenzierte Erkennen zu betrachten."
[14]
Bewunderungswürdig war die Bestimmtheit, mit welcher jede Erscheinung ohne Bedenken erklärt wurde. „Magnetismus ist Verwandlung des Sauerstoffs und Wasserstoffs in Kohlenstoff und Stick
stoff," sagt Steffens S. 91, und Schelling wusste [15] : Sauerstoff ist Prinzip der Elektrizität.
Der Wirbel der Naturphilosophie erfasste die Köpfe der größten Anzahl deutscher Gelehrten und der hervorragendstenÄrzte. Nur wenige entgingen demselben, wie Hufeland, A. v. Humboldt, Blumenbach, Treviranus, Sömmering, Wedekind.
Allgemein fehlte der Plan, nach welchem gearbeitet werden sollte.
Um die Mitte des 18. Jahrhundertes beschrieb Haller das Blut so: „Das Blut besteht obenhin betrachtet aus gleichen Theilen, ist gerinnbar, um so röther, je besser genährt das Thier ist; in einem schwächlichen, hungrigen Thiere ist es gelblicht. Die zuweilen beigemischte Weisse kommt meistens vom Chylus."
1789, circa 30 Jahre später lehrt J. Fr. Blumenbach, der berühmte Göttinger Professor[16] : „Das Blut ist eine Flüssigkeit seiner Art, von bekannter, bald stärkerer, bald schwächerer Farbe, welche beim Befühlen klebricht, warm, und da es durch die Kunst nicht nachgeahmt werden kann, unter die Geheimnisse der Natur zu rechnen ist." Hier war also in der langen Zeit kein Fortschritt zu erkennen.
1803 lehrte man schon [17] : „Das Blut ist aus 9 Theilen gemischt: dem riechbaren Stoff, dem fadenartigen Theile, Eiweissstoff, Schwefel, Gallerte, Eisen, Laugensalz, Natrum und endlich aus Wasser . . . Die Grundstoffe des Blutes sind: Wasserstoff, Kohlenstoff, Salpeterstoff, Grundstoff der Salzsäure, Phosphor, Schwefel, Oxygene, Kalkerde und Eisen."
Die physiologische Chemie hatte also große Fortschritte gemacht, von denen man überrascht war, und die Ansicht hatte, sie praktisch verwerten zu können.
Reich hielt den Sauerstoff für das einzig sichere Mittelgegen Fieber, welches in der übermäßigen Entwicklung und Anhäufung von Stickstoff, Wasserstoff, Kohlenstoff, Schwefel und Phosphor bestand. Er war Professor der medizinischen Fakultät in Erlangen und Berlin, und pries in öffentlichen Blättern und einer besonderen Schrift [18] ein Geheimmittel gegen Fieber an, welches er nur gegen pekuniäre Vergütung bekannt geben wollte. Das Mittel sollte in kurzer Zeit, oft plötzlich das Fieber abschneiden. Eine Kommission von vier Ärzten stellte Versuche in der Berliner Charite damit an, und fand es probat in einer Anzahl von Fällen. Auf das Gutachten dieser Kommission hin wurde dem Professor für Veröffentlichung seines Geheimnisses vom Könige von Preussen bewilligt „eine jährliche Pension von 500 Thaler mit Befreiung von Tax- und Stempelgebühren;" im Falle seines Todes ging die Hälfte davon auf seine Wittwe über. [19]
Dieses war bekannt, bevor die Veröffentlichung des großen Fiebermittels erschien, worauf man nun mit großer Spannung wartete. Endlich wurde die Wissbegierde befriedigt, im Herbst 1800. Das merkwürdige Fiebermittel bestand in Schwefelsäure und Salzsäure; Salpetersäure war unter Verhältnissen auch gut. [20]
Die „für Studirende und Aerzte" geschriebenen Lehrbücher der Therapie waren so buntscheckig wie die Landkarten. Die Ontologie, die Idee, dass Krankheit ein fremdartiges, im Körper sein Unwesen treibendes Ding ist, war von Galen her noch in großen Ehren. Deshalb stand die „ausleerende Methode" obenan. Weiter gab es eine exzitierende Methode, eine stärkende, eine schwächende Methode, eine besänftigende — antagonistische — restaurierende (nicht zu verwechseln mit der stärkenden) — eine adstringierende Methode, welche die Kohäsion vermehrte — eine relaxierende, welche die Kohäsion verminderte — eine derivierende, deobstruierende, resolvierende Methode, ferner eine specifische, antimiasmatische, antiseptische und antigastrische Methode. [21]

Arzneimittel beim Auftreten Hahnemanns

Die Arzneimittel wurden diesen Methoden angepasst; so gab es versüßende, verdünnende, auflösende, verdickende, blutreinigende, kühlende, ausleerende, schleimeinschneidende etc. Arzneien. Ein Simplex zu verordnen war ungewöhnlich. Man findet noch die Ansicht, dass ein Rezept aus einer Basis, einem Konstituens, einem Adjuvans, einem Korrigens und einem Dirigens bestehen müsse.
Kompositionen von 8, 10 und mehr Mitteln waren an der Tagesordnung. Es gab sogenannte „Magistralformeln," komplizierte Mischungen gegen gewisse Krankheiten, von „Autoritäten" zusammengesetzt, durch die „Erfahrung" geheiligt. Solche wurden in den Apotheken vorrätig gehalten, und man wagte nicht daran zu modeln.
Wie die erzählten Krankengeschichten in den Journalen ausweisen, wurden die Rezepte bei akuten Krankheiten häufig alle Tage, bei chronischen alle 2 —3 Tage gewechselt.. Und welche unglaublichen Mengen von Arzneien wurden dem kranken Körper eingeflößt! Darin übertrafen sich die verschiedenen Systeme gegenseitig.

Die tiefer liegenden Gründe für diesen Wirrwarr sahen diese Ärzte selbst nicht ein. Sie verstanden nicht zu beobachten. Statt Tatsachen zu sammeln und nur Tatsachen zu sammeln, und keine weiteren Schlüsse daraus zu ziehen, als soweit diese Tatsachen reichten, knüpften sie an einzelne Beobachtungen an, machten Vergleichungen, schufen Theorien, und ordneten die Dinge diesen Theorien unter. Zum Überfluss verlieh die Naturphilosophie diesen Spekulationen Flügel, und man hob sich vollends aus der Wirklichkeit in die Welt der Phantasie.
Dazu kam, dass das Streben nach Erkenntnis bei einem großen Teil, der Ärzte sehr darnieder lag. Darüber wurde häufig Klage geführt. Prof. Baldinger bedauerte, dass nicht allein viele Ärzte, sondern auch viele Professoren wenig Studieneifer zeigten. [22]

Die ärztliche Kollegialität entsprach dem Grade des Wissens. „Ein wütiger Parteigeist," schrieb Prof. Roose 1803 [23] , „hat sich vieler Gemüter bemächtigt und droht sich immer allgemeiner zu verbreiten. Die Ärzte spalten sich in Sekten und stehen in heftigem, zum Teil unbegründeten, Widerspruch zueinander. Eine Meinungswut und eine Verfolgungssucht wird unter den Ärzten immer gewöhnlicher. "
Je unsicherer sich der Arzt in seiner Kunst fühlt, um so lauter der Ruf nach Staatshilfe gegen die Kurpfuscher und Quacksalber. Wedekind (1. c. S. 38): „Der wissenschaftliche Arzt geht zu Grunde, wenn die Regierung ihn nicht auf alle Art begünstigt."

Hahnemanns Leistungen in der Arzneikunde

 

  1. Prof. Caspar Neumann in ‘Chymia Medica Dogmatico-Experimentalis [Gründliche und mit Experimenten erwiesene Medizinische Chemie], 2. Auflage, 1756
  2. https://en.wikipedia.org/wiki/Crell%27s_Annalen
  3. Geschichte der Chemie III. S.278
  4. Josef M. Schmid in ‘Die Publikationen Samuel Hahnemanns, S. 27
  5. Demachy’s Laborant II. S. 118f
  6. Medicinisches Journal, 1789, St. 21, S.33
  7. Vergl. Demachy, ‘Laborant im Grossen’ II. S. 163; ferner Gren, ‘Handbuch der Pharmacologie, Halle, 1792, II. S. 840
  8. Hg2O, NO5, kristallisiert mit 2 Äquivalenten<span class=
  9. Aus: ‘Recepte und Kurarten der besten Aerzte aller Zeiten’, Leipzig, 1814, 2. Auflage, IV. 24.
  10. Vg. B. Hirschel, Geschichte des Brown’schen Systems, Dresden und Leipzig, 1846, S.37
  11. K. Sprengel, Geschichte der Heilkunde, Halle, 1828, V. 1. S. 455
  12. Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, Jena und Leipzig, 1799
  13. Heckers, Annalen, Bd. II., S. 444
  14. Steffens, I. c. S. 16
  15. I., c., S. 248
  16. Anfangsgründe der Physiologie, Wien 1789, §6
  17. F. Kapp, Systematische Darstellung der durch die neuere Chemie in der Heilkunde bewirkten Veränderungen und Verbesserungen; Hof; 1805; S.31f
  18. G. Ch. Reich, Beschreibung der mit seinen neuen Mitteln behandelten Krankheitsfälle; Nürnberg; 1800
  19. Medic. chirurg. Zeitg.; Salzburg; 1800, III. 315
  20. ib 1799, IV. 189, 1800, I. 25 u. 1800, IV. 292
  21. cf. Hufeland, System der practischen Heilkunde, Jena, 1818 u. Andere
  22. Medic. Journal von Baldinger, 1790, St. 23, S. 16
  23. Horn’s Archiv für med. Erf., III. S. 1f