Doppelblindversuch: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 12. Juli 2018, 19:22 Uhr


Kritik des Doppelblindversuchs als medizinischem Standard

Adaption eines Artikels von Georg Ivanovas

Die Beobachtung, daß ein therapeutischer oder schädlicher Effekt auch auf eine andere Weise, als der erwarteten, zustande kommen kann, stellt eine große Verunsicherung im therapeutischen Selbstverständnis dar. Das Instrument, das Klarheit in die Verwirrung bringen soll, ist der Doppelblindversuch. Er ist sozusagen das "Scheidewasser" der heutigen Medizin.

Im Doppelblindversuch wird etwas gemessen, wodurch scheinbar "Objektivität" zustande kommt. Aber diese "Objektivität" ist mit vielen Fragezeichen versehen.

Die erste Frage ist, was wird mit dem Placebo im Doppelblindversuch gemessen?

Überraschend ist zunächst, daß durch das Placebo nicht der Placeboeffekt gemessen wird, zumindest nicht in Reinform.

Eine übliche, aus der Informationstheorie stammende, Vorstellung, ist: Es gibt im Körper eine Spontanheilung. Diese stellt sozusagen das "informationstheoretische Rauschen" dar, von dem sich die "Information" des Medikamentes abhebt. Je größer die Differenz der Medikamentenheilung von der Spontanheilung ist, desto größer ist die wirksame Potenz des Medikamentes. Dieses Konzept ist aber schon dadurch falsch, daß es den Placeboeffekt außer Acht läßt, also eine Heilung durch die Gabe eines Scheinmedikamentes. Fields/Price machen darauf aufmerksam, daß der Placeboeffekt nicht von der Spontanheilung unterschieden werden kann, daß es also Unwißbarkeit gibt und Spontanheilung und Placeboeffekt nicht auseinandergehalten werden können.[1] Es ist ja eine bekanntes physikalisches Phänomen, daß durch den Meßvorgang der zu messende Prozeß verändert wird. Wie die Dinge "an sich" sind, läßt sich nicht sagen. Noch problematischer wird es, wenn der Begriff "Spontanheilung" genauer untersucht wird. Handelt es sich dabei um einen festen Koeffizienten wie die Zerfallsrate bei radioaktivem Material? Kann es überhaupt Spontanheilung geben? Oder handelt es sich bei diesem Begriff wieder um ein Erklärungsprinzip, das nicht nach den Faktoren fragt, die eine Spontanheilung bedingen? Dann wären in der Spontanheilung aber wieder Placeboeffekte ("unspezifische Faktoren") verborgen, die nicht gemessen werden und vielleicht nicht meßbar sind.

Präziser scheint mir die Defintion zu sein: Beim Doppelblindversuch wird die Summe der nicht bekannten therapeutischen Faktoren des Settings gemessen mit und ohne Zugabe eines definierten Wirkstoffes einschließlich einer nicht näher näher bezeichneten und bezeichenbaren Selbstheilungsrate. Diese nicht bekannten therapeutischen Faktoren ("unspezifisch") können letztlich nicht bestimmt werden. Es kann das Lächeln einer Krankenschwester sein, Erdstrahlen, das Essen, der Fluglärm, der Chlorgehalt des Wassers und die in der Literatur bekannten Faktoren (Größe, Form und Farbe des verabreichten Medikaments und Placebos). Theoretisch sind zwei Placebo-Studien nicht miteinander vergleichbar, da die Faktoren nicht konstant gehalten werden können; und nur eine sehr starke therapeutische Potenz eines Mittels überschreitet die experimentellen Unsicherheiten, wie z.B. Insulin beim insulinpflichtigen Diabetes. Aber nur selten sind die Ergebnisse so eindeutig und überzeugend reproduzierbar, wie in diesem Beispiel.[2]

Einschränkend für den Doppelblindversuch kommt hinzu, daß er zeitlich begrenzt ist und daß er nur jene Beobachtungen zuläßt, die als beobachtbar definiert werden. Die erste Einschränkung ist geläufig; und jede Medikamenteneinführing ist mit dem Warnhinweis versehen, daß seltene Nebenwirkungen eines Medikamentes erst nach längerem Gebrauch bemerkbar sind und dann natürlich nicht doppelblind. Die zweite Einschränkung ist etwas schwieriger zu fassen. Nebenwirkungen halten sich in der Regel nicht an das Modell, das man sich von einem Medikament macht, d.h. es kommen Nebenwirkungen vor, für die es durch die angenommene Wirkung eines Medikamentes keine Erklärung gibt. Aus diesem Grund werden hypothetisch alle unerwünschten Wirkungen innerhalb des beobachteten Zeitrahmens als eventuell durch das zu untersuchende Medikament angenommen.[3] Schwieriger ist es, wenn man eventuelle Spätwirkungen annimmt. Diese lassen sich nicht mit einem Doppelblindversuch messen. Hier ist wieder die leidige Frage der Kausalisierung im Mittelpunkt, nämlich: glaube ich, daß ein bestimmtes später liegendes Ereignis mit einer Medikamentengabe in Zusammenhang steht oder glaube ich es nicht? Die Beweislage ist in jeder Richtung schwierig und die Diskussion darüber in der Regel unfruchtbar. Gesichertes Wissen ist dabei in den seltensten Fällen zu erzielen.

Die Frage der Beobachtungskriterien ist jedoch noch in einer anderen Hinsicht bemerkenswert. Der Doppelblindversuch zeigt im Idealfall, daß sich bestimmte Kriterien bessern. Aber es ist oft schwierig festzustellen, ob diese Besserung von Kriterien auch einem Patienten wirklich nützen. Dazu zwei Beispiele: 1. Die Verabreichung von NaF bei Osteoporose hat regelmäßig ergeben, daß es zu einer Zunahme der Knochendichte kam. In längerfristigen Studien wurde dann einschränkend bewiesen, daß es zwar zu einer Zunahme der Knochendichte kam, daß dieser Knochen jedoch brüchiger war. Das meßbare Kriterium war nicht das, was einem Patienten zugute kam. 2. Digitalis ist das Paradebeispiel eines Medikamentes in der experimentell-naturwissenschaftlichen Medizin. Sein positiver Effekt auf die Kontraktionsfähigkeit des Herzens konnte doppelblind vielfach bestätigt werden. Es gab auch hervorragende Erklärungsmodelle. Trotzdem kam es jetzt, nach millionenfachem Einsatz, zu einer völligen Abkehr von diesem Medikament, weil die bessere Kontraktionsfähigkeit des Herzens nicht ein längeres sondern ein kürzeres Leben zur Folge haben soll.

Da Gesundheit (ein anderes Erklärungsprinzip) nicht gemessen werden kann sondern immer nur bestimmte beobachtbare Stoffwechselfunktionen, läßt sich niemals sagen, ob die Messung mit Gesundheit korreliert. Das läßt sich nur über langfristige Beobachtungen sichern und auch nur mit Einschränkungen. Wenn man aber nur solche Medikamente gelten ließe, die doppelblind so intensiv auf Vor- und Nachteil geprüft wurden wie Digitalis, und das wäre die einzige wissenschaftlich korrekte Vorgehensweise, dann gäbe es fast keine verordenbare Medikamente. Der Doppelblindversuch ist nicht der Goldstandard der Medizin und kann es nicht sein. Eine Medizin, die wirklich darauf basieren würde, wäre nicht lebensfähig. Er kann immer nur gewisse Hinweise geben, niemals jedoch eine Aussage, ob ein Medikament der Gesundheit förderlich ist oder nicht. Das ist nicht Teil seines Versuchskonzeptes.


Fußnoten

  1. H.Fields und D.Price in The Placebo Effect S.97ff
  2. The Placebo Effect S.42f
  3. Ein schönes Beispiel ist die Nebenwirkung, die beim klinischen Test eines neuen Antihypertonikums festgestellt wurde: Erst der Einbruch in die pharmazeutische Firma hat, so will es die Sage, hat gezeigt, daß die Nebenwirkung von Viagra die eigentliche Wirkung war und nicht eine Doppelblindstudie.