Staat im Staate: Unterschied zwischen den Versionen
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In der Türkei wird weithin davon ausgegangen, dass der Tiefe Staat im Geheimen bis heute eine signifikante Rolle in der türkischen Politik spielt und in der jüngeren Geschichte häufig massiven Einfluss genommen hat. Dabei werden unter anderem die beiden Militärputsche von 1971 und 1980 sowie eine größere Zahl von unaufgeklärten politischen Morden, Folter, Menschenrechtsverletzungen, zahlreiche Fälle des gewaltsamen Verschwindenlassens von Menschen und der Verlauf des Konflikts mit der kurdischen PKK in Südostanatolien genannt. Der heutige Stand der Aufklärung des Phänomens, seiner Geschichte und politischen Hintergründe kann jedoch nach wie vor als gering angesehen werden. | In der Türkei wird weithin davon ausgegangen, dass der Tiefe Staat im Geheimen bis heute eine signifikante Rolle in der türkischen Politik spielt und in der jüngeren Geschichte häufig massiven Einfluss genommen hat. Dabei werden unter anderem die beiden Militärputsche von 1971 und 1980 sowie eine größere Zahl von unaufgeklärten politischen Morden, Folter, Menschenrechtsverletzungen, zahlreiche Fälle des gewaltsamen Verschwindenlassens von Menschen und der Verlauf des Konflikts mit der kurdischen PKK in Südostanatolien genannt. Der heutige Stand der Aufklärung des Phänomens, seiner Geschichte und politischen Hintergründe kann jedoch nach wie vor als gering angesehen werden. | ||
− | Das Phänomen des Tiefen Staats ist mit der Entstehungsgeschichte der modernen Türkei verknüpft. Sie entstand Anfang der 1920er Jahre aus dem [[Osmanisches_Reich|Osmanischen Reich]] durch eine radikale Transformation des politischen Systems und der Gesellschaft durch den Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Wesentliche Elemente des | + | Das Phänomen des Tiefen Staats ist mit der Entstehungsgeschichte der modernen Türkei verknüpft. Sie entstand Anfang der 1920er Jahre aus dem [[Osmanisches_Reich|Osmanischen Reich]] durch eine radikale Transformation des politischen Systems und der Gesellschaft durch den Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Wesentliche Elemente des Kemalismus waren und sind Demokratie, ein starker Nationalismus (Begriff des ''Türkentums'') sowie eine strikte Trennung von Religion und Staat. Als Hüter und Bewahrer dieses Staatsmodells sehen sich bis heute vor allem das türkische Militär und Teile der staatlichen Verwaltung, darunter die Geheimdienste. Jegliche Bestrebungen oder Bewegungen, die diese Institutionen als potenzielle Bedrohung des kemalistischen Staats ansahen, wurden in der Vergangenheit mit großer Härte bekämpft, auch unter Einsatz geheimer [[Verdeckte_Operation|„verdeckter Operationen“]] von Geheimdiensten und Militär. Dabei kam es zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen. Als Bedrohung wurden dabei vor allem in den 1970er Jahren [[Sozialismus|sozialistische]] und [[Kommunismus|kommunistische]] Bewegungen sowie bis in die Gegenwart der kurdische Nationalismus angesehen, letzterer insbesondere in Form der marxistischen Untergrundorganisation PKK. Seit geraumer Zeit wird darüber hinaus auch der wieder zunehmende Einfluss des politischen Islam kritisch gesehen. |
− | Das Wesen des Tiefen Staats wird darin gesehen, dass sich im Laufe der Auseinandersetzungen mit den verschiedenen als Bedrohung identifizierten Strömungen innerhalb des Staats Strukturen ausbildeten, die keiner demokratischen Kontrolle unterworfen waren, eine Art ''[[Staat_im_Staate|Staat im Staate]]''. Diese bedienten sich darüber hinaus teilweise krimineller und radikaler politischer Elemente, wobei die fehlende demokratische Kontrolle letztlich zu einer unkontrollierbaren Deformation und Verflechtung staatlicher Strukturen mit Elementen des [[Rechtsextremismus|Rechtsextremismus]] und der | + | Das Wesen des Tiefen Staats wird darin gesehen, dass sich im Laufe der Auseinandersetzungen mit den verschiedenen als Bedrohung identifizierten Strömungen innerhalb des Staats Strukturen ausbildeten, die keiner demokratischen Kontrolle unterworfen waren, eine Art ''[[Staat_im_Staate|Staat im Staate]]''. Diese bedienten sich darüber hinaus teilweise krimineller und radikaler politischer Elemente, wobei die fehlende demokratische Kontrolle letztlich zu einer unkontrollierbaren Deformation und Verflechtung staatlicher Strukturen mit Elementen des [[Rechtsextremismus|Rechtsextremismus]] und der organisierten Kriminalität führte.<ref name="Jahresbericht 1997" /> In diesem Zusammenhang wird auch oft das Vorgehen des Militärs und verschiedener Sicherheitskräfte gegen die Kurden in Südostanatolien in den 1980er und 1990er Jahren genannt, das teilweise als ''[[Schmutziger_Krieg|Schmutziger Krieg]]'' kritisiert wird.<ref>Peter Althammer: ''[http://www.phoenix.de/content/phoenix/die_sendungen/_schmutziger_krieg/267439?datum=2009-10-11 Schmutziger Krieg – Geheimoperationen in der Türkei.]'' Dokumentarfilm, Deutschland, 2009</ref><ref>Susanne Güsten: ''[http://www.nordbayern.de/turkei-kurdenermordung-war-staatspolitik-1.103665 Türkei: Kurdenermordung war „Staatspolitik“.]'' Nürnberger Nachrichten, 17. August 2010.</ref> |
− | Der unten näher behandelte | + | Der unten näher behandelte Susurluk-Skandal von 1996 erweckte deshalb großes Aufsehen in der Türkei, weil diese geheimen Verflechtungen erstmals offenkundig wurden: In einem verunfallten Wagen saßen mit Hüseyin Kocadağ ein hoher Polizeifunktionär, mit Abdullah Çatlı ein international gesuchter, rechtsextremer Drogenhändler und Mörder<ref>{{Internetquelle|autor=René Althammer, Sabine Küper |
|url=http://www.rbb-online.de/_/kontraste/beitrag_jsp/key=rbb_beitrag_1354519.html|titel=Heroinschmuggel aus der Türkei|werk=Rundfunk Berlin-Brandenburg|datum=1997-04-17|zugriff=2008-10-15 | |url=http://www.rbb-online.de/_/kontraste/beitrag_jsp/key=rbb_beitrag_1354519.html|titel=Heroinschmuggel aus der Türkei|werk=Rundfunk Berlin-Brandenburg|datum=1997-04-17|zugriff=2008-10-15 | ||
− | }}</ref> mit erwiesenen Geheimdienstverbindungen, sowie mit | + | }}</ref> mit erwiesenen Geheimdienstverbindungen, sowie mit Sedat Edip Bucak ein Parlamentsabgeordneter, der eine wichtige Rolle im Kampf gegen die PKK gespielt hatte. |
− | Laut Kritikern hat sich unter der | + | Laut Kritikern hat sich unter der AKP-Regierung ein neuer Tiefer Staat gebildet. Dieser neue Tiefe Staat soll durch die Unterwanderung des gesamten Staatsapparats, vor allem der Justizbehörden und der Polizei, durch die Fethullah Gülen-Bewegung organisiert sein.<ref>[[Die Welt]]: [https://www.welt.de/print/die_welt/politik/article12965784/Die-Tuerkei-jagt-ein-Manuskript.html ''Die Türkei jagt ein Manuskript''], abgerufen am 26. März 2011</ref><ref>Internetportal des außenpolitischen US-amerikanischen Magazins [[Foreign Policy]]: [http://www.foreignpolicy.com/articles/2010/02/25/whats_really_behind_turkeys_coup_arrests Whats really behind Turkeys coup arrests], Abgerufen am 25. Februar 2010, (englisch)</ref><ref>[[Der Spiegel]]: [http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-77435260.html ''Zu tief gebohrt''], abgerufen am 14. März 2011</ref><ref>[http://derstandard.at/1285200087259/Der-freundliche-Staat-im-tuerkischen-Staat ''Der freundliche Staat im türkischen Staat''], abgerufen am 5. Oktober 2010</ref><ref>Congressional Research Service: [http://fpc.state.gov/documents/organization/150189.pdf ''Turkey: Politics of Identity and Power – Fethullah Gulen Movement''] (PDF; 359 kB), S. 21 und 22 (englisch).</ref> Eine Reihe von – zum großen Teil – unaufgeklärten Ereignissen hat die Diskussion um den ''Tiefen Staat'' geprägt. Einige davon sind: |
=== Villa Ziverbey === | === Villa Ziverbey === | ||
− | ''Ziverbey köşkü'' (eine Villa im Stadtteil Erenköy von | + | ''Ziverbey köşkü'' (eine Villa im Stadtteil Erenköy von Istanbul) wurde ein Symbol für die systematische Folter von Regimegegnern nach dem Militärputsch im März 1971. Intellektuelle wie İlhan Selçuk und Uğur Mumcu wurden hier gefoltert und bestätigten, was Oberstleutnant Talat Turhan in seinem Buch über den ''Tiefen Staat''<ref>Talat Turhan, „Derin Devlet“ (Tiefer Staat), Verlag Ileri, Istanbul, November 2005, ISBN 9756288671</ref> schrieb. Demnach stellten sich die Folterer bei ihm als Mitglieder der Kontra-Guerilla vor, die ihn nach eigenem Ermessen töten dürften. |
=== Massaker auf dem Taksim-Platz (Istanbul) === | === Massaker auf dem Taksim-Platz (Istanbul) === | ||
− | Am 1. Mai 1977 hielt die „Konföderation Revolutionärer Gewerkschaften der Türkei“ ( | + | Am 1. Mai 1977 hielt die „Konföderation Revolutionärer Gewerkschaften der Türkei“ (DİSK) eine Kundgebung auf dem Taksim-Platz in Istanbul ab, an der sich eine viertel Million Menschen beteiligten. Unerkannte Personen schossen in die Menge und töteten mindestens 34 Personen. Die Täter wurden nie gefasst.<ref>[http://www.bianet.org/bianet/insan-haklari/78385-1977-1-mayis-katliami-aydinlatilsin ''1977 1 Mayıs Katliamı Aydınlatılsın'']; Bianet vom 28. April 2006; Zugriff am 24. April 2011</ref> |
− | 1987 sagte der ehemalige Vizepremier Sadi Kocas der Zeitung | + | 1987 sagte der ehemalige Vizepremier Sadi Kocas der Zeitung Hürriyet: „Es war nicht nur der eine Vorfall, der am 1. Mai passiert ist. Seit 1968–1969 und den 70er Jahren gab es eine Serie von mindestens sieben bis acht Vorfällen pro Jahr.“ Am 7. Mai 1977 bekräftigte Bülent Ecevit: „In den Vorfällen vom 1. Mai hatte die Konterguerilla ihre Finger.“<ref>[http://www.wsws.org/de/2003/mai2003/trk-m01.shtml ''Türkei: Massaker vom 1. Mai 1977 nach wie vor unaufgeklärt''], von Sinan Ikinci. 1. Mai 2003, World Socialist Web Site; Zugriff am 24. April 2011</ref> |
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=== Susurluk-Skandal === | === Susurluk-Skandal === | ||
− | Der Susurluk-Skandal offenbarte sich bei einem Verkehrsunfall am 3. November 1996 in der Nähe der Kreisstadt Susurluk in der Provinz Balıkesir. Bei diesem Unfall kamen der damalige stellvertretende Polizeichef von Istanbul, Hüseyin Kocadağ, ein bekannter Aktivist der | + | Der Susurluk-Skandal offenbarte sich bei einem Verkehrsunfall am 3. November 1996 in der Nähe der Kreisstadt Susurluk in der Provinz Balıkesir. Bei diesem Unfall kamen der damalige stellvertretende Polizeichef von Istanbul, Hüseyin Kocadağ, ein bekannter Aktivist der Grauen Wölfe, Abdullah Çatlı, und dessen Frau Gonca Us ums Leben. Der Abgeordnete der Partei des Rechten Weges (DYP) für die Provinz Urfa, Sedat Edip Bucak, der eine eigene Armee von Dorfschützern gegen die PKK befehligte, wurde verletzt. |
− | Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss veröffentlichte im April 1997 einen 350-seitigen Bericht zu dem Vorfall. Laut dem Bericht hatten | + | Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss veröffentlichte im April 1997 einen 350-seitigen Bericht zu dem Vorfall. Laut dem Bericht hatten Staatsorgane die Grauen Wölfe instrumentalisiert. In diesem Zusammenhang hätten Staatsorgane in den 1970er Jahren gewaltsame Konflikte zwischen politisch links und rechts stehenden Gruppen initiiert, um die Vorbedingungen für den Militärputsch von 1980 zu schaffen.<ref name="Jahresbericht 1997">Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV): Jahresbericht 1997, ISBN 975-7217-22-0 (in der türkischen Fassung steht die Aussage auf S. 7).</ref> |
=== Das Ereignis in Şemdinli === | === Das Ereignis in Şemdinli === | ||
− | Am 9. November 2005 explodierte in einem Buchladen in der Kreisstadt | + | Am 9. November 2005 explodierte in einem Buchladen in der Kreisstadt Şemdinli in der Provinz Hakkâri eine Handgranate. Es gab einen Toten und viele Verletzte. Passanten stellten drei Verdächtige. Zwei von ihnen gehörten der Gendarmerie an und einer war ein Überläufer der PKK. Der Staatsanwalt Ferhat Sarıkaya, der Verbindungen der Gefreiten Ali Kaya und Özcan İldeniz sowie des Überläufers Veysel Ateş zu hochrangigen Militärs aufzudecken versuchte, wurde seines Amtes enthoben.<ref>Nachricht über die Entlassung des Staatsanwaltes Ferhat Sarikaya, 20. April 2006 (türkisch) [http://www.haber7.com/haber.php?haber_id=151642 türkischer Fernsehsender]</ref><ref>Meldung im [http://www.tuerkeiforum.net/Wochenbericht_45/2006 Wochenbericht 45/2006 des Demokratischen Türkeiforums] (Aufgerufen am 31. Januar 2009)</ref> |
Die Täter wurden an der 3. Großen Strafkammer in Van angeklagt und am 19. Juni 2006 zu 30 Jahren 10 Monaten und 27 Tagen Haft verurteilt.<ref>Siehe [http://www.tuerkeiforum.net/Wochenbericht_25/2006 Wochenbericht 25/2006 des Demokratischen Türkeiforums] (Aufgerufen am 31. Januar 2009)</ref> Im Mai 2007 hob die 9. Strafkammer des Kassationshofes das Urteil auf.<ref>Siehe [http://www.tuerkeiforum.net/Wochenbericht_20/2007 Wochenbericht 20/2007 des Demokratischen Türkeiforums] (Aufgerufen am 31. Januar 2009)</ref> Die Richter der 3. Strafkammer in Van weigerten sich, das Verfahren an ein Militärgericht abzugeben. Sie wurden danach versetzt.<ref>Siehe [http://www.tuerkeiforum.net/Wochenbericht_27/2007 Wochenbericht 27/2007 des Demokratischen Türkeiforums] (Aufgerufen am 31. Januar 2009)</ref> Nachdem das Verfahren an das Militärgericht in Van übergeben worden war, wurde hier die Freilassung der Angeklagten angeordnet.<ref>Siehe [http://www.tuerkeiforum.net/Wochenbericht_51/2007 Wochenbericht 51/2007 des Demokratischen Türkeiforums] (Aufgerufen am 31. Januar 2009)</ref> | Die Täter wurden an der 3. Großen Strafkammer in Van angeklagt und am 19. Juni 2006 zu 30 Jahren 10 Monaten und 27 Tagen Haft verurteilt.<ref>Siehe [http://www.tuerkeiforum.net/Wochenbericht_25/2006 Wochenbericht 25/2006 des Demokratischen Türkeiforums] (Aufgerufen am 31. Januar 2009)</ref> Im Mai 2007 hob die 9. Strafkammer des Kassationshofes das Urteil auf.<ref>Siehe [http://www.tuerkeiforum.net/Wochenbericht_20/2007 Wochenbericht 20/2007 des Demokratischen Türkeiforums] (Aufgerufen am 31. Januar 2009)</ref> Die Richter der 3. Strafkammer in Van weigerten sich, das Verfahren an ein Militärgericht abzugeben. Sie wurden danach versetzt.<ref>Siehe [http://www.tuerkeiforum.net/Wochenbericht_27/2007 Wochenbericht 27/2007 des Demokratischen Türkeiforums] (Aufgerufen am 31. Januar 2009)</ref> Nachdem das Verfahren an das Militärgericht in Van übergeben worden war, wurde hier die Freilassung der Angeklagten angeordnet.<ref>Siehe [http://www.tuerkeiforum.net/Wochenbericht_51/2007 Wochenbericht 51/2007 des Demokratischen Türkeiforums] (Aufgerufen am 31. Januar 2009)</ref> | ||
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=== Ermordung von Hrant Dink === | === Ermordung von Hrant Dink === | ||
− | Der armenische Journalist | + | Der armenische Journalist Hrant Dink wurde am 19. Januar 2007 vor dem Büro seiner Zeitschrift "Agos" in Istanbul ermordet. Als Mörder wurde der minderjährige Ogün Samast in Samsun gefasst. Am 7. Februar 2007 berichtete die Nachrichtenagentur ANKA von Verbindungen des Mörders zu nationalistischen Kreisen und wies darauf hin, dass er als Polizeispitzel und für den Geheimdienst der Gendarmerie (JITEM) gearbeitet hatte.<ref>http://www.bianet.org/2006/11/01_eng/news91866.htm</ref> Der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk gab der türkischen Regierung eine Mitschuld an diesem Mord.<ref>[http://www.tagesspiegel.de/politik/archiv/23. Januar 2007/3036432.asp ''Pamuk sieht Mentalität des Lynchens''.] In: ''Tagesspiegel'', 23. Januar 2007. Abgerufen am 21. Juni 2013</ref> Die Anwälte von Dinks Hinterbliebenen kritisierten die türkischen Behörden. Die wahren Hintermänner der Tat seien gedeckt worden und Beweismittel seien verheimlicht oder vernichtet worden. Der [[Europäischer_Gerichtshof_für_Menschenrechte|Europäische Gerichtshof für Menschenrechte]] stellte im Jahr 2010 eine Mitverantwortung des türkischen Staates fest, weil er Dink trotz vorliegender Erkenntnisse über Pläne von Rechtsradikalen zur Ermordung kritischer Journalisten nicht schützte.<ref>[http://www.zeit.de/politik/ausland/2011-07/Dink-Tuerkei-Samast Prozess in Istanbul] Die Zeit, 25. Juli 2011. Abgerufen am 21. Juni 2013</ref> |
=== Offizielle Kommentare === | === Offizielle Kommentare === | ||
− | Als Erster wies 1974 der damalige Ministerpräsident | + | Als Erster wies 1974 der damalige Ministerpräsident Bülent Ecevit auf einen „Staat im Staate“ unter dem Begriff „Kontra-Guerilla“ (''kontr-gerilla'') hin. Der damalige Kommandant der angeblichen Geheimorganisation Amt für besondere Kriegsführung, General Kemal Yamak, soll den Chef des Generalstabs, Semih Sancar, gebeten haben, den Premierminister um die Zahlung von einer Million Dollar für sein Amt zu bitten. Bis zu diesem Zeitpunkt sei diese Summe jährlich von den [[Vereinigte_Staaten|USA]] gezahlt worden.<ref>Kemal Yamak: ''Gölgede Kalan İzler ve Gölgeleşen Bizler'' (Spuren im Schatten und Wir als Schatten), Doğan Kitap, Januar 2006, ISBN 975-293-415-3.</ref> In den Memoiren des Generals Kenan Evren, der den Militärputsch in der Türkei 1980 angeführt hatte, berichtet er von einem Treffen mit dem damaligen Ministerpräsidenten Süleyman Demirel am 5. Mai 1980. Demirel habe ihn gebeten, das Amt für besondere Kriegsführung im Einsatz gegen die ''Terroristen'' einzusetzen (wie es am 30. März 1972 geschehen sei). Kenan Evren habe abgelehnt, weil er keine Gerüchte über ''Kontra-Guerilleros'' hören wollte.<ref>Kenan Evren in Anıları (Memoirs of Kenan Evren), Istanbul 1990, S. 431</ref> Ähnliches sagte Kenan Evren in einem Interview mit der Tageszeitung ''Hürriyet'' am 16. November 1990. |
− | Premierministerin | + | Premierministerin Tansu Çiller kommentierte zum Unfall in Susurluk, dass „alle, die für den Staat Kugeln abfeuerten oder von Kugeln getroffen würden, ehrenwert seien“.<ref>Vgl. [http://www.cnnturk.com/YASAM/DIGER/haber_detay.asp?PID=223&HID=1&haberID=141345 Nachricht von CNN Türk].</ref> In einem Programm des Fernsehsenders Kanal 7 zum Mord an Hrant Dink sagte der Premier Recep Tayyip Erdoğan am 27. Januar 2007, dass der „Staat im Staate“ (tiefer Staat – derin devlet) eine nicht zu leugnende Realität sei. Es habe ihn seit dem Osmanischen Reich gegeben. Es ginge darum, ihn zu minimieren und, wenn möglich, auszuschalten.<ref>Vgl. [http://www.radikal.com.tr/haber.php?haberno=211350 Nachricht in Radikal vom 28. Januar 2007].</ref> |
=== Film === | === Film === | ||
− | Aspekte des Tiefen Staates wurden 2009 in fiktionalisierter Form in dem türkischen, dort sehr erfolgreichen Politthriller | + | Aspekte des Tiefen Staates wurden 2009 in fiktionalisierter Form in dem türkischen, dort sehr erfolgreichen Politthriller „Tal der Wölfe – Gladio“ thematisiert. Zugrunde liegt die Fernsehserie „Tal der Wölfe“. |
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''Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt und diejenigen, die gewählt wurden, haben nichts zu entscheiden.'' - Horst Seehofer im öffentlichen Fernsehen am 20.05.2010 gegenüber Erwin Pelzig<ref>http://www.dominik-storr.de/2010/05/22/seehofers-gestandnis-die-gewahlt-werden-haben-nichts-zu-entscheiden/</ref> | ''Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt und diejenigen, die gewählt wurden, haben nichts zu entscheiden.'' - Horst Seehofer im öffentlichen Fernsehen am 20.05.2010 gegenüber Erwin Pelzig<ref>http://www.dominik-storr.de/2010/05/22/seehofers-gestandnis-die-gewahlt-werden-haben-nichts-zu-entscheiden/</ref> | ||
− | „''Deutschland ist ein Supertanker, aber im Führerhäuschen sitzt nicht der Bundeskanzler, sondern da sitzen die Leute, die hier auf dem Podium sind.'' | + | „''Deutschland ist ein Supertanker, aber im Führerhäuschen sitzt nicht der Bundeskanzler, sondern da sitzen die Leute, die hier auf dem Podium sind.'' - Ernst-Moritz Lipp, ehemaliger Dresdner-Bank-Vorstand, mit Blick auf rund 500 feiernde Finanzstrategen und Topleuten aus der Wirtschaft <ref>http://www.heise.de/tp/artikel/44/44622/1.html</ref> |
''Was wir haben ist eine Scheindemokratie ... Was wir haben ist tatsächlich eine Plutokratie, eine Herrschaft des Geldes ... im Monument haben wir eine Herrschaft des Geldes, des Geldadels und dem ist eine demokratische Fassade vorgeschaltet, die aber keine große Wirkung ... hat. Die wichtigen Entscheidungen werden von Leuten gefällt, die nicht gewählt werden, und die gewählt werden, treffen in der Regel gar nicht so viele Entscheidungen, wie man meint.'' - „Mr Dax“ Dirk Müller, im Interview „Der fehlende Part“ <ref>https://www.youtube.com/watch?v=HuNiAOtrSAA</ref> | ''Was wir haben ist eine Scheindemokratie ... Was wir haben ist tatsächlich eine Plutokratie, eine Herrschaft des Geldes ... im Monument haben wir eine Herrschaft des Geldes, des Geldadels und dem ist eine demokratische Fassade vorgeschaltet, die aber keine große Wirkung ... hat. Die wichtigen Entscheidungen werden von Leuten gefällt, die nicht gewählt werden, und die gewählt werden, treffen in der Regel gar nicht so viele Entscheidungen, wie man meint.'' - „Mr Dax“ Dirk Müller, im Interview „Der fehlende Part“ <ref>https://www.youtube.com/watch?v=HuNiAOtrSAA</ref> | ||
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== Siehe auch == | == Siehe auch == | ||
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*[[Staatsterrorismus|Staatsterrorismus]] | *[[Staatsterrorismus|Staatsterrorismus]] | ||
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== Literatur == | == Literatur == | ||
− | * | + | *Jürgen Roth: ''Der Tiefe Staat. Die Unterwanderung der Demokratie durch Geheimdienste, politische Komplizen und rechten Mob.'' Wilhelm Heyne Verlag, München 2016. ISBN 978-3-453-20113-2 |
− | *Ernst Fraenkel: ''The Dual State. A Contribution to the Theory of Dictatorship''. Transl. from the German by E. A. Shils, in collaboration with Edith Lowenstein and Klaus Knorr, Oxford University Press, New York [u. a.] 1941 (Deutsch: ''Der Doppelstaat''. ''Recht und Justiz im "Dritten Reich"''. Rückübers. aus dem Englischen von Manuela Schöps in Zusammenarbeit mit dem Verfasser, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1974, | + | *Ernst Fraenkel: ''The Dual State. A Contribution to the Theory of Dictatorship''. Transl. from the German by E. A. Shils, in collaboration with Edith Lowenstein and Klaus Knorr, Oxford University Press, New York [u. a.] 1941 (Deutsch: ''Der Doppelstaat''. ''Recht und Justiz im "Dritten Reich"''. Rückübers. aus dem Englischen von Manuela Schöps in Zusammenarbeit mit dem Verfasser, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1974, ISBN 3-434-20062-2). |
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Version vom 23. Januar 2019, 15:21 Uhr
Der Begriff Tiefer Staat bezeichnet eine Verflechtung politischer, wirtschaftlicher und militärischer Kräfte innerhalb eines Staates, die sich nicht nur der demokratischen Kontrolle entziehen, sondern auch versuchen, völlig unbekannt zu bleiben und politische, juristische und wirtschaftliche Vorgänge und Entscheidungen zum Vorteil der Beteiligten zu manipulieren.[1]
Während der Begriff "Tiefer Staat" im deutschen Sprachgebrauch überwiegend von kritischen, emanzipativen Autoren und Medien verwendet wird, haben sich in den USA überwiegend rechte politische Kräfte um Bannon und Trump den Begriff "Deep State" angeeignet.[2]
Dem Begriff Tiefer Staat wird häufig der "Fassadendemokratie" an die Seite gestellt[3] und bezeichnet die Verschleierung der eigentlich in Netzwerken des Tiefen Staates liegenden Macht durch eine nur oberflächlich funktionierende Demokratie, in welcher die Bürger/innen nur über Wahlen einen vermeintlichen Einfluß nehmen können, wobei die wählbaren Politiker/innen aber nur als austauschbare Figuren für eine im Wesen gleichbleibende Politik stehen.
Der investigative Journalist Dirk Pohlmann nennt "Maßnahmenstaat" - im Gegensatz zum "Normenstaat" - als Synonym zu "Tiefer Staat" - wowie, auf Emil Lederer (1882-1939) zurückgehend, "Machtstaat" und "Rechtsstaat". Diese Gegensatzpaare werden in einem Vortrag der Gruppe 42 auch "dualer Staat" bezeichnet[4].
Der Artikel in Wikipedia zu dem Thema bezieht sich ausschließlich auf politische Entwicklungen in der Türkei und verschweigt, daß der Begriff Tiefer Staat in kritischen Medien der westlichen Welt vornehmlich für demokratiefeindliche Entwicklungen in den USA und der EU verwendet wird. Umfangreiches Material zum Thema findet sich in den Online-Magazinen Rubikon und KenFM.
Da die Begriffsgeschichte als solche nicht falsch ist, wird sie hier folgend wiedergegeben, auch wenn der heute politisch relevante Gebrauch des Begriffs bewußt nicht erwähnt wird.
Der folgende Textabschnitt basiert auf dem Artikel „Tiefer Staat“ aus Wikipedia, gelesen am 8.8.18, und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist auf der vorgenannten Seite eine Liste der Autoren verfügbar. Textanpassungen und -änderungen sind möglich und wurden zum Teil nötig, weil die Darstellung in der Wikipedia nicht immer der Information, sondern der Verbreitung bestimmter Meinungen dient/e und/oder inhaltlich unvollständig, tendenziös oder verzerrt war/ist.
Herkunft des Begriffs: "Tiefer Staat" (türkisch: derin devlet) wird in der Türkei in der Bedeutung von Staat im Staate verwendet. Er deutet auf eine im Verlauf mehrerer Jahrzehnte gewachsene konspirative Verflechtung von Militär, Geheimdiensten, Politik, Justiz, Verwaltung, Rechtsextremismus und organisiertem Verbrechen (insbesondere Killerkommandos) hin. Die Diskussion entfachte sich besonders um den sogenannten Susurluk-Skandal im Jahre 1996, wurde aber schon in den 1970er Jahren mit Begriffen wie Kontra-Guerilla oder Özel Harp Dairesi (Amt für besondere Kriegsführung) geführt. In den letzten Jahren wurde in diesem Zusammenhang auch der offiziell inexistente Geheimdienst der Gendarmerie mit seiner Abkürzung JİTEM genannt.
Inhaltsverzeichnis
Hintergrund in der Türkei
In der Türkei wird weithin davon ausgegangen, dass der Tiefe Staat im Geheimen bis heute eine signifikante Rolle in der türkischen Politik spielt und in der jüngeren Geschichte häufig massiven Einfluss genommen hat. Dabei werden unter anderem die beiden Militärputsche von 1971 und 1980 sowie eine größere Zahl von unaufgeklärten politischen Morden, Folter, Menschenrechtsverletzungen, zahlreiche Fälle des gewaltsamen Verschwindenlassens von Menschen und der Verlauf des Konflikts mit der kurdischen PKK in Südostanatolien genannt. Der heutige Stand der Aufklärung des Phänomens, seiner Geschichte und politischen Hintergründe kann jedoch nach wie vor als gering angesehen werden.
Das Phänomen des Tiefen Staats ist mit der Entstehungsgeschichte der modernen Türkei verknüpft. Sie entstand Anfang der 1920er Jahre aus dem Osmanischen Reich durch eine radikale Transformation des politischen Systems und der Gesellschaft durch den Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Wesentliche Elemente des Kemalismus waren und sind Demokratie, ein starker Nationalismus (Begriff des Türkentums) sowie eine strikte Trennung von Religion und Staat. Als Hüter und Bewahrer dieses Staatsmodells sehen sich bis heute vor allem das türkische Militär und Teile der staatlichen Verwaltung, darunter die Geheimdienste. Jegliche Bestrebungen oder Bewegungen, die diese Institutionen als potenzielle Bedrohung des kemalistischen Staats ansahen, wurden in der Vergangenheit mit großer Härte bekämpft, auch unter Einsatz geheimer „verdeckter Operationen“ von Geheimdiensten und Militär. Dabei kam es zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen. Als Bedrohung wurden dabei vor allem in den 1970er Jahren sozialistische und kommunistische Bewegungen sowie bis in die Gegenwart der kurdische Nationalismus angesehen, letzterer insbesondere in Form der marxistischen Untergrundorganisation PKK. Seit geraumer Zeit wird darüber hinaus auch der wieder zunehmende Einfluss des politischen Islam kritisch gesehen.
Das Wesen des Tiefen Staats wird darin gesehen, dass sich im Laufe der Auseinandersetzungen mit den verschiedenen als Bedrohung identifizierten Strömungen innerhalb des Staats Strukturen ausbildeten, die keiner demokratischen Kontrolle unterworfen waren, eine Art Staat im Staate. Diese bedienten sich darüber hinaus teilweise krimineller und radikaler politischer Elemente, wobei die fehlende demokratische Kontrolle letztlich zu einer unkontrollierbaren Deformation und Verflechtung staatlicher Strukturen mit Elementen des Rechtsextremismus und der organisierten Kriminalität führte.[5] In diesem Zusammenhang wird auch oft das Vorgehen des Militärs und verschiedener Sicherheitskräfte gegen die Kurden in Südostanatolien in den 1980er und 1990er Jahren genannt, das teilweise als Schmutziger Krieg kritisiert wird.[6][7]
Der unten näher behandelte Susurluk-Skandal von 1996 erweckte deshalb großes Aufsehen in der Türkei, weil diese geheimen Verflechtungen erstmals offenkundig wurden: In einem verunfallten Wagen saßen mit Hüseyin Kocadağ ein hoher Polizeifunktionär, mit Abdullah Çatlı ein international gesuchter, rechtsextremer Drogenhändler und Mörder[8] mit erwiesenen Geheimdienstverbindungen, sowie mit Sedat Edip Bucak ein Parlamentsabgeordneter, der eine wichtige Rolle im Kampf gegen die PKK gespielt hatte.
Laut Kritikern hat sich unter der AKP-Regierung ein neuer Tiefer Staat gebildet. Dieser neue Tiefe Staat soll durch die Unterwanderung des gesamten Staatsapparats, vor allem der Justizbehörden und der Polizei, durch die Fethullah Gülen-Bewegung organisiert sein.[9][10][11][12][13] Eine Reihe von – zum großen Teil – unaufgeklärten Ereignissen hat die Diskussion um den Tiefen Staat geprägt. Einige davon sind:
Villa Ziverbey
Ziverbey köşkü (eine Villa im Stadtteil Erenköy von Istanbul) wurde ein Symbol für die systematische Folter von Regimegegnern nach dem Militärputsch im März 1971. Intellektuelle wie İlhan Selçuk und Uğur Mumcu wurden hier gefoltert und bestätigten, was Oberstleutnant Talat Turhan in seinem Buch über den Tiefen Staat[14] schrieb. Demnach stellten sich die Folterer bei ihm als Mitglieder der Kontra-Guerilla vor, die ihn nach eigenem Ermessen töten dürften.
Massaker auf dem Taksim-Platz (Istanbul)
Am 1. Mai 1977 hielt die „Konföderation Revolutionärer Gewerkschaften der Türkei“ (DİSK) eine Kundgebung auf dem Taksim-Platz in Istanbul ab, an der sich eine viertel Million Menschen beteiligten. Unerkannte Personen schossen in die Menge und töteten mindestens 34 Personen. Die Täter wurden nie gefasst.[15]
1987 sagte der ehemalige Vizepremier Sadi Kocas der Zeitung Hürriyet: „Es war nicht nur der eine Vorfall, der am 1. Mai passiert ist. Seit 1968–1969 und den 70er Jahren gab es eine Serie von mindestens sieben bis acht Vorfällen pro Jahr.“ Am 7. Mai 1977 bekräftigte Bülent Ecevit: „In den Vorfällen vom 1. Mai hatte die Konterguerilla ihre Finger.“[16]
Susurluk-Skandal
Der Susurluk-Skandal offenbarte sich bei einem Verkehrsunfall am 3. November 1996 in der Nähe der Kreisstadt Susurluk in der Provinz Balıkesir. Bei diesem Unfall kamen der damalige stellvertretende Polizeichef von Istanbul, Hüseyin Kocadağ, ein bekannter Aktivist der Grauen Wölfe, Abdullah Çatlı, und dessen Frau Gonca Us ums Leben. Der Abgeordnete der Partei des Rechten Weges (DYP) für die Provinz Urfa, Sedat Edip Bucak, der eine eigene Armee von Dorfschützern gegen die PKK befehligte, wurde verletzt.
Ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss veröffentlichte im April 1997 einen 350-seitigen Bericht zu dem Vorfall. Laut dem Bericht hatten Staatsorgane die Grauen Wölfe instrumentalisiert. In diesem Zusammenhang hätten Staatsorgane in den 1970er Jahren gewaltsame Konflikte zwischen politisch links und rechts stehenden Gruppen initiiert, um die Vorbedingungen für den Militärputsch von 1980 zu schaffen.[5]
Das Ereignis in Şemdinli
Am 9. November 2005 explodierte in einem Buchladen in der Kreisstadt Şemdinli in der Provinz Hakkâri eine Handgranate. Es gab einen Toten und viele Verletzte. Passanten stellten drei Verdächtige. Zwei von ihnen gehörten der Gendarmerie an und einer war ein Überläufer der PKK. Der Staatsanwalt Ferhat Sarıkaya, der Verbindungen der Gefreiten Ali Kaya und Özcan İldeniz sowie des Überläufers Veysel Ateş zu hochrangigen Militärs aufzudecken versuchte, wurde seines Amtes enthoben.[17][18]
Die Täter wurden an der 3. Großen Strafkammer in Van angeklagt und am 19. Juni 2006 zu 30 Jahren 10 Monaten und 27 Tagen Haft verurteilt.[19] Im Mai 2007 hob die 9. Strafkammer des Kassationshofes das Urteil auf.[20] Die Richter der 3. Strafkammer in Van weigerten sich, das Verfahren an ein Militärgericht abzugeben. Sie wurden danach versetzt.[21] Nachdem das Verfahren an das Militärgericht in Van übergeben worden war, wurde hier die Freilassung der Angeklagten angeordnet.[22]
Ermordung von Hrant Dink
Der armenische Journalist Hrant Dink wurde am 19. Januar 2007 vor dem Büro seiner Zeitschrift "Agos" in Istanbul ermordet. Als Mörder wurde der minderjährige Ogün Samast in Samsun gefasst. Am 7. Februar 2007 berichtete die Nachrichtenagentur ANKA von Verbindungen des Mörders zu nationalistischen Kreisen und wies darauf hin, dass er als Polizeispitzel und für den Geheimdienst der Gendarmerie (JITEM) gearbeitet hatte.[23] Der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk gab der türkischen Regierung eine Mitschuld an diesem Mord.[24] Die Anwälte von Dinks Hinterbliebenen kritisierten die türkischen Behörden. Die wahren Hintermänner der Tat seien gedeckt worden und Beweismittel seien verheimlicht oder vernichtet worden. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte im Jahr 2010 eine Mitverantwortung des türkischen Staates fest, weil er Dink trotz vorliegender Erkenntnisse über Pläne von Rechtsradikalen zur Ermordung kritischer Journalisten nicht schützte.[25]
Offizielle Kommentare
Als Erster wies 1974 der damalige Ministerpräsident Bülent Ecevit auf einen „Staat im Staate“ unter dem Begriff „Kontra-Guerilla“ (kontr-gerilla) hin. Der damalige Kommandant der angeblichen Geheimorganisation Amt für besondere Kriegsführung, General Kemal Yamak, soll den Chef des Generalstabs, Semih Sancar, gebeten haben, den Premierminister um die Zahlung von einer Million Dollar für sein Amt zu bitten. Bis zu diesem Zeitpunkt sei diese Summe jährlich von den USA gezahlt worden.[26] In den Memoiren des Generals Kenan Evren, der den Militärputsch in der Türkei 1980 angeführt hatte, berichtet er von einem Treffen mit dem damaligen Ministerpräsidenten Süleyman Demirel am 5. Mai 1980. Demirel habe ihn gebeten, das Amt für besondere Kriegsführung im Einsatz gegen die Terroristen einzusetzen (wie es am 30. März 1972 geschehen sei). Kenan Evren habe abgelehnt, weil er keine Gerüchte über Kontra-Guerilleros hören wollte.[27] Ähnliches sagte Kenan Evren in einem Interview mit der Tageszeitung Hürriyet am 16. November 1990.
Premierministerin Tansu Çiller kommentierte zum Unfall in Susurluk, dass „alle, die für den Staat Kugeln abfeuerten oder von Kugeln getroffen würden, ehrenwert seien“.[28] In einem Programm des Fernsehsenders Kanal 7 zum Mord an Hrant Dink sagte der Premier Recep Tayyip Erdoğan am 27. Januar 2007, dass der „Staat im Staate“ (tiefer Staat – derin devlet) eine nicht zu leugnende Realität sei. Es habe ihn seit dem Osmanischen Reich gegeben. Es ginge darum, ihn zu minimieren und, wenn möglich, auszuschalten.[29]
Film
Aspekte des Tiefen Staates wurden 2009 in fiktionalisierter Form in dem türkischen, dort sehr erfolgreichen Politthriller „Tal der Wölfe – Gladio“ thematisiert. Zugrunde liegt die Fernsehserie „Tal der Wölfe“.
Tiefer Staat in der Bundesrepublik Deutschland
Der Publizist Jürgen Roth widmete sein Anfang 2016 erschienenes Buch Der Tiefe Staat. Die Unterwanderung der Demokratie durch Geheimdienste, politische Komplizen und den rechten Mob zu ungefähr gleichen Teilen dem Aufbau von Stay behind-Gruppen in den Nachkriegsjahrzehnten, den Verbindungen von Verfassungsschutzämtern und anderen Behörden zum rechtsextremen NSU sowie der Kampagne gegen Flüchtlinge im Sommer und Herbst 2015.[30]
Explizite Aussagen über den tiefen Staat in der BRD:
„Tiefer Staat meint für Deutschland: eine eigene Struktur, die nicht kontrolliert wird, die nicht rechtsstaatlich eingebunden ist, in der diese tiefe Struktur nach eigenen Opportunitätsgesichtspunkten handeln und walten kann. Ohne rechtsstaatliche Einhegung und ohne Kontrolle durch die gewaltenteilende Demokratie.“ - Prof. Hans-Joachim Funke, Politikwissenschaftler.
„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ - Carl Schmitt, † 7. April 1985, politischer Philosoph, einer der bekanntesten & umstrittensten deutschen Staats- & Völkerrechtler des 20. Jahrhunderts.
„Im Unterschied dazu zum Normenstaat orientiere sich der Maßnahmenstaat nicht an Rechten, sondern ausschließlich an Überlegungen der situativ-politischen Zweckmäßigkeit. Entscheidungen würden nach "nach Lage der Sache" getroffen. In diesem Sektor "fehlen die Normen und herrschen die Maßnahmen.“ - Ernst Fraenkelt, 1898-1975, Der Doppelstaat [31]
Scheindemokratie
Diverse Personen bekunden die Pseudodemokratie in Deutschland:
Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt und diejenigen, die gewählt wurden, haben nichts zu entscheiden. - Horst Seehofer im öffentlichen Fernsehen am 20.05.2010 gegenüber Erwin Pelzig[32]
„Deutschland ist ein Supertanker, aber im Führerhäuschen sitzt nicht der Bundeskanzler, sondern da sitzen die Leute, die hier auf dem Podium sind. - Ernst-Moritz Lipp, ehemaliger Dresdner-Bank-Vorstand, mit Blick auf rund 500 feiernde Finanzstrategen und Topleuten aus der Wirtschaft [33]
Was wir haben ist eine Scheindemokratie ... Was wir haben ist tatsächlich eine Plutokratie, eine Herrschaft des Geldes ... im Monument haben wir eine Herrschaft des Geldes, des Geldadels und dem ist eine demokratische Fassade vorgeschaltet, die aber keine große Wirkung ... hat. Die wichtigen Entscheidungen werden von Leuten gefällt, die nicht gewählt werden, und die gewählt werden, treffen in der Regel gar nicht so viele Entscheidungen, wie man meint. - „Mr Dax“ Dirk Müller, im Interview „Der fehlende Part“ [34]
USA
Mathias Bröckers berichtet in Tagesdosis 22.1.2019 - JFK, RFK, MLK, Malcolm X über mutmaßliche Aktionen des "deep state" in den USA.
COG
Continuity of Government, klandestine Strukturen in den USA unterhalb der "demokratisch legitimierten" öffentlichen Strukturen, zur Sicherstellung der Regierungsfähigkeit im Falle einer [vermeintlichen] Gefährdung der offiziellen Regierung. Im Rahmen der Terroranschläge von 9/11 wurden die Strukturen des COG aktiviert.
Siehe auch
- Balyoz (Putschplan)
- Staatsterrorismus
Literatur
- Jürgen Roth: Der Tiefe Staat. Die Unterwanderung der Demokratie durch Geheimdienste, politische Komplizen und rechten Mob. Wilhelm Heyne Verlag, München 2016. ISBN 978-3-453-20113-2
- Ernst Fraenkel: The Dual State. A Contribution to the Theory of Dictatorship. Transl. from the German by E. A. Shils, in collaboration with Edith Lowenstein and Klaus Knorr, Oxford University Press, New York [u. a.] 1941 (Deutsch: Der Doppelstaat. Recht und Justiz im "Dritten Reich". Rückübers. aus dem Englischen von Manuela Schöps in Zusammenarbeit mit dem Verfasser, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1974, ISBN 3-434-20062-2).
Weblinks
- Übersichtsartikel zum Tiefen Staat von amnesty international anlässlich des Beginns des Ergenekon-Prozesses 2008
- Harter Schlag gegen Verteidiger des „Türkentums“, Tagesspiegel vom 24. Januar 2008
- Kapitel zum Vorfall von Şemdinli beim Demokratischen Türkeiforum
- "Tiefer Staat" Artikel Dossier der TAZ
- Die Regierung und der "tiefe Staat", Tagesspiegel vom 17. Februar 2017
Einzelnachweise
- ↑ https://www.rubikon.news/artikel/die-fake-demokratie
- ↑ https://en.wikipedia.org/wiki/Deep_state_in_the_United_States
- ↑ siehe div. Artikel in Rubikon
- ↑ Dirk Pohlmann über
- ↑ 5,0 5,1 Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV): Jahresbericht 1997, ISBN 975-7217-22-0 (in der türkischen Fassung steht die Aussage auf S. 7).
- ↑ Peter Althammer: Schmutziger Krieg – Geheimoperationen in der Türkei. Dokumentarfilm, Deutschland, 2009
- ↑ Susanne Güsten: Türkei: Kurdenermordung war „Staatspolitik“. Nürnberger Nachrichten, 17. August 2010.
- ↑ René Althammer, Sabine Küper: Heroinschmuggel aus der Türkei. In: Rundfunk Berlin-Brandenburg. 17. April 1997, abgerufen am 15. Oktober 2008.
- ↑ Die Welt: Die Türkei jagt ein Manuskript, abgerufen am 26. März 2011
- ↑ Internetportal des außenpolitischen US-amerikanischen Magazins Foreign Policy: Whats really behind Turkeys coup arrests, Abgerufen am 25. Februar 2010, (englisch)
- ↑ Der Spiegel: Zu tief gebohrt, abgerufen am 14. März 2011
- ↑ Der freundliche Staat im türkischen Staat, abgerufen am 5. Oktober 2010
- ↑ Congressional Research Service: Turkey: Politics of Identity and Power – Fethullah Gulen Movement (PDF; 359 kB), S. 21 und 22 (englisch).
- ↑ Talat Turhan, „Derin Devlet“ (Tiefer Staat), Verlag Ileri, Istanbul, November 2005, ISBN 9756288671
- ↑ 1977 1 Mayıs Katliamı Aydınlatılsın; Bianet vom 28. April 2006; Zugriff am 24. April 2011
- ↑ Türkei: Massaker vom 1. Mai 1977 nach wie vor unaufgeklärt, von Sinan Ikinci. 1. Mai 2003, World Socialist Web Site; Zugriff am 24. April 2011
- ↑ Nachricht über die Entlassung des Staatsanwaltes Ferhat Sarikaya, 20. April 2006 (türkisch) türkischer Fernsehsender
- ↑ Meldung im Wochenbericht 45/2006 des Demokratischen Türkeiforums (Aufgerufen am 31. Januar 2009)
- ↑ Siehe Wochenbericht 25/2006 des Demokratischen Türkeiforums (Aufgerufen am 31. Januar 2009)
- ↑ Siehe Wochenbericht 20/2007 des Demokratischen Türkeiforums (Aufgerufen am 31. Januar 2009)
- ↑ Siehe Wochenbericht 27/2007 des Demokratischen Türkeiforums (Aufgerufen am 31. Januar 2009)
- ↑ Siehe Wochenbericht 51/2007 des Demokratischen Türkeiforums (Aufgerufen am 31. Januar 2009)
- ↑ http://www.bianet.org/2006/11/01_eng/news91866.htm
- ↑ Januar 2007/3036432.asp Pamuk sieht Mentalität des Lynchens. In: Tagesspiegel, 23. Januar 2007. Abgerufen am 21. Juni 2013
- ↑ Prozess in Istanbul Die Zeit, 25. Juli 2011. Abgerufen am 21. Juni 2013
- ↑ Kemal Yamak: Gölgede Kalan İzler ve Gölgeleşen Bizler (Spuren im Schatten und Wir als Schatten), Doğan Kitap, Januar 2006, ISBN 975-293-415-3.
- ↑ Kenan Evren in Anıları (Memoirs of Kenan Evren), Istanbul 1990, S. 431
- ↑ Vgl. Nachricht von CNN Türk.
- ↑ Vgl. Nachricht in Radikal vom 28. Januar 2007.
- ↑ Jürgen Roth: Der Tiefe Staat. Die Unterwanderung der Demokratie durch Geheimdienste, politische Komplizen und rechten Mob. Wilhelm Heyne, München 2016, ISBN 978-3-453-20113-2.
- ↑ https://www.youtube.com/watch?v=8SCcEdl--Bk 14:50
- ↑ http://www.dominik-storr.de/2010/05/22/seehofers-gestandnis-die-gewahlt-werden-haben-nichts-zu-entscheiden/
- ↑ http://www.heise.de/tp/artikel/44/44622/1.html
- ↑ https://www.youtube.com/watch?v=HuNiAOtrSAA